Der Westen und Russland

Russland soll mit einem Aufklärungsflugzeug in estnischen Luftraum eingedrungen sein. Vor wenigen Tagen gab es „fremde Unterwasseraktivität“ in Schwedens Schären. Die Skandinavier verzichteten auf vorschnelle Verdächtigungen. Die Medien kaum.

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts verblasst jede journalistische Distanzierung („vermeintlich“, „unbestätigt“, etc.) von den ausgegebenen Meldungen. Wenn auch nicht immer explizit genannt, wird Russland als steter potentieller Feind in den Medien präsent gehalten. Alle Versöhnungspolitik, sofern es eine solche in ernsthafter Absicht gab, ist in wenigen Monaten zunichte gemacht worden, der mediale Reflex hat die Kalte-Krieg-Mentalität offenbart. Russlands Anrainer reagieren nervös und selbst in westeuropäischen – zumindest in Deutschland – Staaten wird eine Bedrohung aus dem Osten aufgebaut.

Sind die Bedenken unhaltbar, tun die deutschen Medien dem eurasischen Russland Unrecht? Sind die Russen unschuldig und verdächtigt man sie fälschlicherweise des Einflusses in der Ostukraine? Wir wissen es nicht! Und mit jeder weiteren „unbestätigten“ Meldung wissen nicht mehr. Was die Lage in der Ukraine und an den Grenzen Osteuropas betrifft, stehen wir dort, wo wir am Anfang des Ukraine-Konflikts standen: bei Ungewissheiten, Vermutungen, Spekulationen. Trotz unserer globalen Informationstechnik stecken wir in weitreichender Informationslosigkeit, besser: Desinformation. Kaum eine Meldung ist vertrauenswürdig.

Aber vielleicht ist es im Sinne einiger Beteiligter, Verwirrung zu stiften. Den Informationsfluss kann niemand eindämmen. Eine Informationstechnologie, die jedem zur Verfügung steht, dauerhaft benutzbar ist, ist nicht zu kontrollieren. Kein Diktator kann die Datenmenge zensieren. Die einzige Möglichkeit, die Medienfluktuation zu missbrauchen, besteht darin, sie zu verstärken und aus ihr einen reißenden Strom zu machen: Um Desinformation zu kreieren und umso deutlicher Taten sprechen zu lassen. So würde ich es machen. Die Informationsmenge erhöhen, damit sich alle Macht letztlich auf mein persönliches Wort fokussiert. Bleibt die Frage, wer Interesse an der Informationsverwirrung hat?

Den Russen kommt eine Destabilisierung der Ostukraine entgegen. Sie ermöglicht ihnen Einfluss und eventuell gar Territorialerweiterung. Aber Russland profitiert nicht allein von einer Destabilisierung. Unsicherheit treibt die osteuropäischen Nationen nach Westen. Neue Märkte für die schwächelnden „alteuropäischen“ Staaten. Auch die USA könnten Interesse haben an einem gespaltenen Europa. Sie gewinnen wieder mehr Einfluss auf die Westeuropäer, die sich in ihrem Reflex gegen den Osten wenden und sich verstärkt an die Vereinigten Staaten binden. Nicht vernachlässigbar vor dem Hintergrund des noch nicht endgültig beschlossenen Freihandelsabkommen TTIP. Die Unwägbarkeiten und Krisengefahr im dem Osten brächte eventuell den entscheidenden Ausschlag.

Auch das sind Spekulationen. Aber ich behaupte ja, dass wir nicht mehr wissen als zu Beginn der Krise in der Ukraine. Die Nachrichtenlage ist unüberschaubar und vor allem zweifelhaft. Denn unabhängig von gegensätzlichen Aussagen in den jeweiligen nationalen Medien, fallen mir allen in der deutschen Berichterstattung Unstimmigkeiten auf. Allein in der kürzlichen Nachricht über die Luftraumverletzung der Russen gegenüber Estland verwundert mich, dass sich das russische Flugzeug nur circa eine Minute über fremden Gebiet aufgehalten haben sollen, aber in dieser kurzen Zeit bereits NATO-Kampfflieger das Flugzeug abfingen und aus dem Luftraum hinausbegleiteten (http://www.tagesschau.de/ausland/nato-russland-101.html). Tagesschau.de kombiniert sogar die Nachricht über die Luftraumverletzung mit den Nachrichten über die Küstenaktivität vor Schweden. Honi soi qui mal y pense. So neutral die Berichterstattung sich auch manchmal gibt, im großen Kontext West-Ost gerät jede Meldung, wie beispielweise zum Unglück des französischen Total-Chefs, zu gefährlichem Zündstoff. Dieser Verantwortung müssen sich die Medien bewusst sein.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0