Was ich nicht weiß

Was ich nicht weiß

16. Februar 2015

 

Ob die Waffenruhe nach dem Verhandlungsmarathon in Minsk halten wird, bleibt zu hoffen, gesichert ist sie nicht. Sich das Leid der ukrainischen Bevölkerung in den umkämpften Gebieten vorstellen, kann man nicht. Folglich kann man darüber nicht schreiben. Jeden Versuch, ihre Lage in die Überlegungen über die politische Situation einzuarbeiten, empfinde ich als zynisch. Ich, wie viele andere, bilde meine Meinung in einem Raum der Sicherheit. Journalisten, die sich vor Ort der Gefahr aussetzen, um zu recherchieren oder auch nur die Fakten zu vermitteln, müssen sich bitter getroffen fühlen, werden ihnen aus sicherer Entfernung Falschmeldung und Lüge vorgeworfen. Ihre Berichterstattung aus den ukrainischen Krisengebieten fordert Vertrauen von uns. Und ebenso verlangt die aufgeheizte Situation ein gesundes Maß an Misstrauen oder besser: kritische Aufmerksamkeit.

Denn die Nähe von Journalisten zu Organisationen mahnt zur Prüfung des Geschriebenen und, soweit möglich, der Fakten. Zweifel sind zu Recht angebracht, wo Medienvertreter eine enge Verbindung zu US-Verbänden aufweisen, wie einige Publikationen schilderten. (Darunter: M. Broeckers: Wir sind die Guten; Wolfgang Bittner: Die Eroberung Europas durch die USA; Udo Ulfkotte: Gekaufte Journalisten; siehe auch: Die Anstalt (ZDF-Kabarett-Sendung) 29. April 2014. Sie beziehen sich fast alle auf Uwe Krügers Dissertationsschrift „Meinungsmacht“.) Die Frage ist berechtigt, wie frei Journalisten schreiben, wenn sie von Organisationen gesponsert werden? Sie ist nicht die einzige Frage. Es bleibt eine Vielzahl, auf die ich gerne eine Antwort hätte.

Inzwischen bin ich überzeugt, dass Wladimir Wl. Putin die Separatisten mit militärischem Material unterstützt. Ein solch langer, erfolgreicher Widerstand gegen die reguläre ukrainische Armee traue ich Freischärlern ohne Hilfe nicht zu. Im Gegenzug möchte ich wissen, wie viele Waffen aus dem Westen in die Ukraine vor wie während der Unruhen auf den Maidan gelangten. Interessanter in diesem Zusammenhang: War es rechtens und wenn ja, warum spricht darüber niemand offen?

Ob die Annexion der Krim ein Völkerrechtsbruch war, kann ich nicht beurteilen. In staats- wie in völkerrechtlichen Fragen kenne ich mich nicht aus. Insofern weiß ich nicht, ob der Verweis auf das Kosovo-Referendum begründet ist. Diese Frage hätte ich ebenfalls gerne ge- und erklärt. Lawrows Vorstoß, der Beitritt der DDR zur BRD 1990 sei völkerrechtswidrig gewesen, schätze ich als nicht haltbar ein. Russland lautstark des Völkerrechtsbruchs zu zeihen, missfällt mir insofern, dass sich niemand aus dem Fenster lehnen sollte, der selbst das Völkerrecht missachtet hat. Nichts anderes war der Einmarsch der USA in den Irak. George W. Bush hielt eine UN-Deckung für unnötig, um seine Pläne durchzusetzen. Der Einsatz in Afghanistan war fragwürdig. Warum ich den Satellitenbildern aus der Ukraine misstraue, ist zurückzuführen auf die angeblichen Beweisbilder von mobilen Waffenarsenalen im Irak. Sichergehen, wo die Bilder gemacht wurden, welche Orte sie bezeichnen, kann ich ohnehin nicht. Nach dem wiederholten Einsatz falscher Bilder im Fernsehen (Bilder aus dem Georgienkrieg 2008 wurden fälschlicherweise für die Berichterstattung aus der Ukraine verwendet) bin ich misstrauisch. Der vermeintliche Abschuss der malaysischen Maschine des Fluges MH17 irritiert mich, weil wieder unterschiedliche Aussagen aufeinandertreffen: Das russische Radar zeigte eine Abweichung von der geplanten Route. Wurde das bestätigt? Der Flugschreiber wurde von den Separatisten übergeben. Wer ist nun im Besitz des Flugschreibers und warum wurden dessen Aufzeichnungen nicht umgehend veröffentlicht, um möglichen Anschuldigungen der Vertuschung aus dem Weg zu gehen?

Die Ukraine braucht die Einhaltung der Waffenruhe. Erst dann kann die zerfahrene Situation allmählich aufgelöst werden. Russlands beteuerte Unschuld wird sich dabei ebenso wenig aufrechterhalten lassen wie die hehren Absichten des Westens. Auch wenn es für die aktuelle Lage kaum relevant ist, will ich die Anfänge des Ukraine-Konfliktes nicht vergessen. Auch dabei begegne ich mehr Fragen als Antworten. Haben die USA massiven Druck auf die Regierung unter Janukowitsch ausgeübt? Ist das „Engagement“ ranghoher US-amerikanischer Politiker auf dem Maidan rechtens gewesen? War es nicht zumindest ein Affront? Stimmt es, dass Unmengen an Geldern für einen Regimewechseln in der Ukraine aufgebracht wurde? Ist das legal? Ist es demokratisch? Ist Jazenuk ein „Ziehkind“ der USA?

Russland wird sicherlich seinen Einfluss auf die Ukraine gehabt haben, immerhin sind die Nachbarländer lange politisch verbunden, eigentlich vereint, gewesen. Und Politik hat stets mit Interessen zu tun, Russland steht den USA in nichts nach. Die Verantwortung auf die eine Seite abzuwälzen und der russischen Regierung ein Verharren im Kalten Krieg zu unterstellen, zeugt nur von mangelnder Selbsteinsicht. Russische KGB-Nostalgiker finden in profitorientierten Waffenlobbyisten um Barack Obama ihr Äquivalent. Wo es Krieg gibt, dort braucht es Waffen. Wo es Waffen gibt, dort gibt es Zerstörung. Zerstörung braucht Wiederaufbau. Krieg ist ein Wirtschaftsmotor. Ich unterstelle den USA nach wie vor, dass ein instabiles Europa in ihrem Interesse ist. (Victoria Nulands Aussage „fuck the EU!“ halte ich für bezeichnend.) Ein schwaches Europa stärkt die USA. Sie haben eine stärkere Position in den TTIP-Verhandlungen, sie können die Uneinigkeit europäischer Politiker ausnutzen, sie können Europa durch den Konflikt wieder längerfristig an sich binden. Die von Bush aufgekündigten ABM-Verträge und die forcierte Osterweiterung der NATO zogen bereits eine Front.

Die Erweiterung des nordatlantischen Bündnisses auf die osteuropäischen Staaten mag rechtmäßig sein, sinnvoll ist sie nicht gewesen. Sicherlich hätte es Alternativen gegeben. Eine starke Einbindung (nicht Anbiederung an) Russlands in europäische Prozesse hätte für seine Anrainerstaaten gewiss mehr Sicherheit versprochen als der Konfrontationskurs. Europa ist Friedensnobelpreisträger und scheitert am Ausgleich unterschiedlicher Interessensparteien: dem Sicherheitsbedürfnis der ehemaligen Sowjetstaaten und dem Bedürfnis Russlands nach Anerkennung. Intensive, stabile Beziehungen zu Russland hätten einen Konflikt bereits im Vorfeld unterlaufen. Anders vertragen sich westliche Arroganz und östliche Renitenz nicht.

War schon zu Beginn der Ukraine-Krise deutlich, dass sich zwei Lager gegenüberstehen, Westverteidiger und Russlandversteher, zeigen mir die Debatten, dass mit Argumenten nicht weit zu kommen ist. Weder lassen sich die „Westler“ von begründeten Einwänden überzeugen noch sind Russlandversteher zugänglich für Belege. Der Konflikt ist zu emotional und war es immer. Mir drängt sich die Frage auf, inwieweit der Mensch überhaupt fähig ist, sich auf Argumente einzulassen, wo er von seinen Gefühlen zur Parteinahme verleitet wird.

Ich hoffe, Europas Bemühungen helfen. Denn weder möchte ich in einem Europa als russischem Protektorat, wie es Aleksandr Dugin gerne sähe, leben noch in einem Europa als Schoßhündchen der USA, das alle TTIP-Häppchen seines überseeischem Herrchens schluckt.

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