Ein Satz der Zukunft

Geschichte aus der Perspektive des Morgens

Im ZEIT-Magazin (8; 19. Feb. 2015) lese ich einen Artikel über Ingo Zamperoni, einem sympathischen, lockeren ARD-Korrespondent in Washington, USA. In das Porträt lässt der Autor Hintergründe der ARD-Nachrichten einfließen. Die tagesthemen bilden nach wie vor den Informations- und damit Anzugspunkt der deutschen Nachrichten, weshalb die Berufung zum tagesthemen-Moderator einem „Adelstitel“ (S. 19) gleichkommt. Zamperoni wird mehr oder weniger offen als nächster Ansager der ARD gehandelt. Den geforderten „beachtlichen Lebenslauf“ (S. 20) bringt der Deutschitaliener mit, einen Großteil der Erfahrung sammelte er in den USA.
Auslandserfahrung sensibilisiert für andere Länder, andere Kulturen und damit häufig für eine andere Perspektive. Vor dem Hintergrund deutschen Medien-Bashings (Stichwort Lügenpresse; Gekaufte Journalisten) frage ich mich, inwieweit eine langjährige Ausbildung in den USA eine kritische Berichterstattung gegenüber den Vereinigten Staaten zulässt. Identifiziert sich nicht ein Großteil der Journalisten mit dem Land, in dem sie ihre Karriere beschleunigt haben; wird damit ein skeptisches Recherchepotential nicht unterlaufen? Immerhin, so Claus Kleber vom ZDF, muss „man in Washington gewesen sein [...], wenn man im deutschen Nachrichtenfernsehen ganz nach oben kommen will.“ (S. 21).
Es ist gerade dieser Satz, der mich stutzen lässt. Denn er besitzt etwas Geschichtsträchtiges. Diesen Satz ließt man nicht nur sinngemäß, sondern in abgewandelten Formulierungen in historischen Überblicken und Werke; lediglich mit anderem Vorzeichen. Er taucht oft im Zusammenhang mit Karrieren in den ehemaligen sozialistischen Ostblockstaaten auf. Wer zur sozialistischen Nomenklatura zählte, „muss in Moskau gewesen sein.“ Dieser Satz, in zahlreichen Variationen, offenbart die Abhängigkeit, die im Ostblock vom sowjetischen Zentrum Moskau herrschte. Er zeigt weiterhin an, dass alle Verbindungen zur Stadt an der Moskwa liefen und dort die Strippen gezogen wurden. Alle anderen Politiker in den sozialistischen Republiken waren Marionetten.
Volker Pispers stellt in seinem Kabarettprogramm „Bis neulich 2014“ ein Gedankenexperiment an, das ich hier weiterführe. Er fragt, was kommt, wenn der Kapitalismus zusammenbricht und ein neues System etabliert wird. „Was für eine Funktion hatten Sie in dem Schweinesystem“, fragt Pispers stellvertretend für die neuen Machthaber. Gehörte man auf die Seite der ausbeuterischen Arbeitgeber, kämpfte man für mehr Demokratie und Beteiligung, gegen soziale Ungerechtigkeit, gesellte man sich zu den vollmundigen, aber tatenlosen Politikern?
Mit dem Beitritt der DDR zur BRD löste sich die Deutsche Demokratische Republik auf. Ihre bisherigen Strukturen wurden abgelöst, die Währung wurde abgeschafft, die D-Mark war nun auch dort Zahlungsmittel, das ganze System wurde umgestellt, das bis dato geltende Recht existierte nicht mehr. Der ostdeutsche Unrechtsstaat hörte auf, Bürger der DDR mussten sich für ihre Taten in ihm verantworten. Mauerschützen wurden nach bundesrepublikanischem Recht verurteilt, Parteikader wurden ihrer Ämter enthoben. Viele von ihnen mussten in Moskau gewesen sein, um derart hoch zu kommen.
Nimmt man einmal an, das demokratisch-kapitalistische Regierungssystem unserer Zeit bricht eines Tages zusammen, die Nachfolger in den Machtpositionen ziehen die Verantwortlichen der menschenunwürdigen Behandlung mit Verweis auf die Menschenrechte zur Rechenschaft, und zuletzt würde die Geschichte umgedeutet; immerhin schreiben die Sieger die Geschichte. Nach einigen Dekaden folgen historische Standardwerke, die die Abhängigkeiten in unserem aktuellen System aufdecken, aufarbeiten und offen legen. Ich wäre nicht überrascht, stieße ich im Kapitel über deutsche Gesellschaftsentwicklung im frühen 21. Jahrhundert – ihre Strukturen, Grundtendenzen, Fehlentwicklungen und die dazugehörigen Ursachen – auf den Satz: „Man muss in Washington gewesen sein.“


3. März 2015