Masernimpfverweigerung

Nach den epidemischen Masernerkrankungen in Berlin wird diskutiert, ob Aufklärung der deutschen Bevölkerung ausreicht oder doch ein Impfzwang greifen muss, um den viralen Infekt auszurotten.

Fahrlässig sei es, sein Kind zu impfen, wehren sich Impfgegner mit dem Argument der Körperverletzung, weil Impfschäden auftreten können.

Fahrlässig ist es, sein Kind nicht zu impfen, weil ein schwerwiegender Verlauf statistisch vor allem bei Erkrankung und nicht bei Impfung auftritt. Erziehungsberechtigte müssen sich gegenüber ihrem Kind rechtfertigen, warum sie gegen eine relativ schwere Krankheit einer relativ sicheren Vorgehensweise nicht zugestimmt haben. Verantwortung tragen sie auch gegenüber anderen, die noch nicht Gelegenheit hatten, ihr Kind impfen zu lassen (sei es zum Beispiel wegen einer langen Infektion oder terminlichen Engpässen beim Arzt). Das Rauchverbot zielt auf den Schutz der Mitmenschen, im Falle einer Krankheit wird die Selbstbestimmung geltend gemacht.

An der Verweigerung wirkt vieles wie eine Trotzreaktion der Eltern, die sich nicht in ihr Projekt Kind hineinreden lassen wollen. Im Philosophie Magazin (3/ 2015, S. 14) wirft ein Artikel mit Rückgriff auf Adorno eine Form von Systemkritik in der Impfverweigerung auf. Aus einer Verzweiflung heraus, gesellschaftlichen Entwicklungen ohnmächtig gegenüberzustehen, pochen die Eltern auf unvernünftige Autonomie.

Als „mündiger Bürger“ meint man eben überall mitreden zu müssen – und zu können. Leicht wird übersehen – allen Informationsmöglichkeiten zum Trotz – dass wir nichts anderes bleiben als Laien. Wer eine klare Antwort auf die Gefährdung durch Impfung geben will, muss Medizin und Pharmakologie studieren, um sie angemessen beurteilen zu können. Wir akzeptieren in unserer Gesellschaft Spezialisten (Fondsmanager, Buchhalter, Bauingenieure, Optiker, Akustiker, Zahnärzte, Terrorismusexperten, Islamkenner, etc. pp.) und taten alles, um die Verantwortung um ein Spezialwissen an Experten zu delegieren. Wo immer politische Entscheidungen von Tragweite betroffen sind, werden Kommissionen einberufen, Studien in Auftrag gegeben und Fragen an Fachkräfte weitergegeben, damit die Politiker auf Basis einer angemessenen Quellensituation entscheiden können. Ausgerechnet bei den Ärzten und den Impfempfehlungen sperren sich viele Eltern dagegen.

Tatsache ist, dass Ärzte nicht ohne Fehl sind. Die einstigen „Götter in Weiß“ haben ihren Status längst in Medizinskandalen eingebüßt. Und schließlich ist die Wissenschaft nicht Garant von Eindeutigkeit. Helikopter-Eltern denken aber, sie wüssten es besser, vor allem wenn sie sich ein paar Minuten oder gar eine Stunde im Internet informieren und meinten, sie überblickten ein Themengebiet. Deshalb mischen sie sich ein, weil sie überzeugt sind, sie können – aber auch: sie müssten. Zum einen lastet auf dem „mündigen Bürger“ die Angst der Entmündigung, also der Verlust von Autonomie (vor allem dort, wo das (Einzel)Kind „Projekt“ der Eltern ist); zum anderen liegt auf den Eltern ebenfalls der Druck, für sein Kind bestens sorgen zu wollen. Gerade letzteres gestaltet sich schwierig in einer Gesellschaft, die an einem Informationsüberfluss leidet: Angesichts der Vielzahl an Ratschlägen (und Ratgeberliteratur) können die Eltern kaum mehr selektieren, was nun gut tut und was nicht. Kompetente Quellen sind oft diskreditiert, weil die investigative Berichterstattung in den Medien suggeriert, die bisher verlässlichen Institutionen besitzen alle ihre Mängel; zumindest das Potential dazu.

Ausschlaggebend für das unvernünftige Verhalten der Impfverweigerer halte ich deshalb eine Empfindung: Misstrauen. Reportagen über Pharmaskandale lassen die Bürger verunsichert zurück. Es bleibt ein Bild, dass Pharmaunternehmen ihre Medikamente unterbringen wollen, dazu auch Studien fälschen, den Politiker mit ihrer Lobbyarbeit ohnehin schmerzhaft auf den Füßen stehen, es wie immer in der Wirtschaft um Geschachere im Hintergrund geht, kurz: dass Pharmazieunternehmen rücksichtslos profitorientiert sind – auch auf Kosten der Gesundheit der Bürger. Wer garantiert, dass es in der STIKO (Ständige Impfkommission) nicht ähnlich zugeht, dass Druck ausgeübt wird, unhaltbare Studien neue Stoffe empfehlen, wo bisher kein Handlungsbedarf bestand, etc.?

Die Bürger, gerade wenn sie ihrer Verantwortung bewusst sind, wollen prüfen, können es aber nicht. Denn sie sind nicht die Spezialisten. Aber sie fühlen sich allein gelassen und zwangsläufig sind sie misstrauisch. Ständiges Misstrauen besitzt jedoch das gefährliche Potential, eine Gesellschaft zu zersetzen.

 

16. März 2015