So wird Multimedia ein Kinderspiel

Meine Tochter liebt ihr Mobile. Eigentlich handelt es sich streng genommen nicht um ein Mobile, sondern um ein Spielreck. Doch auch diese Bezeichnung ist unüblich. Damit unsere Tochter auch bei den Großeltern ihren Spaß mit einer „Greifstation“ (Anja Grynczel) hat, baten meine Frau und ich die Schwiegereltern ein Mobile zu besorgen.

 

Das Unternehmen war nicht so einfach, weil die Auswahl entweder verschwindend gering war oder die angebotenen Geräte nicht gefielen. Im Kapitalismus bekommt man alles, nur nicht das, was man will. Vor allem aber fragten die Schwiegereltern nach dem falschen Produkt: Stangen mit baumelnden Figuren, die das Kind zum Greifen animieren sollen, heißen „Baby First Gym“, wahlweise „Baby-Aktiv-„ oder „-Fitness-Center“.  (Wehe mein Kind bekommt davon keine Muskeln, dann fordere ich das Geld zurück.)

 

Die Schwiegereltern erstanden nicht nur eine Kleinkind-Spielarena, sondern auch eine Vorrichtung, die wir über den Kinderwagen spannen können; ebenfalls zur Greifanimation gedacht. Ich beschwor meine Schwiegereltern, auf Qualität zu achten, und fragte, ob das Spielreck auch WLAN habe. Mein Schwiegervater stieg darauf ein und konterte, er habe sogar auf eine integrierte Kamera sowie einen Drucker geachtet. Damit kann meine Tochter sich ablichten und ihren infantilen Status bei Facebook posten.  Bei Bedarf kann sie für ihre reaktionären Eltern ein Bild für deren analoges Sammelalbum ausdrucken.

 

Eine alberne Idee? Warum? Ein internetfähiger Toaster (sic!) scheint diese Welt auch zu brauchen (s.d.: http://www.tagesschau.de/schlusslicht/image-toaster100.html). Ein Toaster, der tagesaktuelle Photos aus dem Internet lädt, um sie auf die Scheibe Brot zu brennen. Inwieweit ist meine Idee nicht innovativ? Gerade im digitalen Zeitalter ist Medienfrühförderung essentiell.

 

Angesichts unserer technologischen Epoche scheint es doch geradezu geboten, Kinder so früh wie möglich mit den modernen Medien vertraut zu machen. Sie können weder reden noch gehen, aber der Greifreflex ist bereits ausgeprägt. Flachbildschirme bestasten kann ein Kind im Liegen. Wieviel Potential geht verloren, indem Eltern ihre Kinder Energie auf schaukelnde Plastikfigürchen verschwenden lassen. Womöglich ließe sich visuelle Wahrnehmung, gar Sprachvermögen fördern, hingen am „Aktiv-Center“ Smartphones anstelle von Tierchen. Per Fingerzeig könnte man unterschiedliche Bilder anzeigen lassen, damit es nicht langweilig wird.

 

Immerhin sehen viele in den Phones und Tablets eine Revolution, preisen sie als Entdeckung, nicht als profane Erfindung (FAZ 111/ 15. Mai 2013, S.N1). Auch der französische Philosoph Michel Serres sieht darin eine Chance (Philosophie Magazin 6/2013, S.30ff): Noch nie war Wissen so verfügbar wie heute. Wo früher ein Gelehrter Stockwerke an Büchern füllen musste, zückt heute ein Kind – Entschuldigung, ein Kid oder Preteen – sein mobiles Gerät und ruft Weltwissen ab. Der Fingerzeig ist im digitalen Zeitalter der kulturelle Gestus (lat.: digitus = Finger).

 

Mich erstaunt, dass die Verfechter dieser Technologie nicht die Kehrseite der Medaille sehen: So schnell wie Wissen abrufbar ist, so schnell kann es fortgewischt werden. Vielmehr als der Fingerzeig scheint mit die (verächtliche) Wegwischbewegung kulturell bezeichnend zu sein. Was langweilig ist, was zu lang dauert, zuviel Mühe kostet, weil ich es lesen muss, verbanne ich mit einer lässigen Schmähbewegung.

 

Einige Artikel brechen nun eine Lanze für die „oberflächlichen“ Medien (z. B.: DIE ZEIT 6/ 30. Jan 2014, S.46, online Version: http://www.zeit.de/2014/06/glosse-spiele-apps-quizduell). Sie verweisen auf die neue App „Quizduell“, bei der man sein Wissen testen und sich mit anderen vergleichen kann. Sie preisen sie als Bildungsinteresse, verschweigen aber, dass es sich um abgefragtes Bruchstückwissen handelt. Meist bezieht sich die Kritik am Umgang mit den neuen Medien auf die Vernachlässigung komplexen Denkens. (Gerade der Zeit-Artikel führt diese Kritik auf und will sie mit dem Verweis auf die App widerlegen).

 

WLAN-Spielrecks als kindliche Frühforderung zu verkaufen, halte ich nicht für abwegig (siehe internetfähiger Toaster). Schließlich gibt es auch SMS-Notfallbuchten im Staat New York (http://www.tagesschau.de/schlusslicht/text-stop100.html).  Die Meisten machen sich über solche Meldungen lustig, lachen, wenn Kabarettisten die Auswüchse unserer Internetzivilisation präsentieren. Im gleichen Atemzug verbreiten sie die Witze über ihre Mobilgeräte und merken nicht, dass sie zu den Angesprochenen gehören. Die technische Versklavung hat bereits begonnen, kaum jemand empört sich, geschweige denn verweigert sich.

 

Sollen wir also wieder zurück in die Steinzeit? Bei Kerzenschein mit Gänsefedern auf Papier kratzen, Wäsche auf einem Feuerherd auskochen und Briefe einem Postkutscher anvertrauen? Sollen wir die Innovationen aufgeben, weil ein paar Rückständige sich überfordert füllen?

 

Ebenso wie die Technikeuphorie schnell als Verdummungsmaschinerie verschrien ist, wird Kritik an Technologiefortschritt als Kulturpessimismus abgetan. Wie, meiner Meinung nach, sehr häufig, liegt das rechte Maß irgendwo dazwischen. Die technologischen Neuerungen sind meiner Ansicht nach nicht die einzigen Beispiele der Menschheitsgeschichte, die Kontroversen auslösen – und sowohl nützen wie auch schaden können. Ein Gewehr erleichtert das Jagen, macht es aber auch leicht, einen Menschen zu töten. Die Atomenergie beschert uns Haushaltsstrom wie die Möglichkeit, hunderttausende Menschen zugleich umzubringen. Die Technik hat ihre zwei Seiten: Nutzen und Gefahr. Anfang des 21. Jahrhunderts wiederholt sich, was um 1900 bereits aktuell war: Fortschrittseuphorie mit der Hoffnung, den Tod besiegen zu können, und Skepsis, ob der Mensch sich nicht zu weit von seiner Natürlichkeit entfernt. (Die Literatur bietet unzählige Texte dazu. Genannt seien nur: G. Hauptmann „Atlantis“, Kellermann „Der Tunnel“, Ivan A. Bunin „Gospodin iz San-Francisko“).

 

Der Flachbildschirm eignet sich hervorragend als Symbol gesellschaftlicher Verflachung. Er lässt sich jedoch auch als Spiegel deuten: Er reflektiert den Benutzer. Wie reflektiert die Person davor ist, ist oft wichtiger als die Frage von Segen und Fluch moderner Medienmöglichkeiten. Allerdings dürfen wir uns nicht in Scheinargumente flüchten à la: Nicht die Waffe tötet, sondern der Mensch, der sie benutzt. Nichtsdestoweniger kommt dem Menschen Verantwortung zu.

 

Die ganze internetfähige Technologie erfordert vor allem einen verantwortungsvollen Umgang. Dieser muss erlernt werden. Es wird kaum gelingen, verdammt man alle Geräte aus dem Einzugsbereich des Kindes. Genauso wenig hat es Erfolg, überlässt man den Nachwuchs den weitläufigen, reiz-vollen Optionen. Technik sollte Ergänzung sein, nicht Ersatz. Grundlegende Fähigkeiten müssen erworben sein: Wahrnehmung, Verarbeitung, Konzentrationsfähigkeit, und bei unserem Überangebot vor allem Selektionsvermögen. Ob diese Fähigkeiten klassisch oder mit technologischer Unterstützung vermittelt werden, darüber lässt sich lange diskutieren, wobei ich einen Mittelweg für plausibel halte (während ich persönlich die klassische Variante ohne viel Medienschnick-schnack bevorzuge).

 

Die Tiefgründigkeit eines Menschen hängt sicherlich mit der Möglichkeit zusammen, sich auf etwas einzulassen. Wo ein Reiz den anderen ablöst, bildet sich vermutlich kaum eine Tiefe, in der Personen einer Sache auf den Grund gehen. Der Mensch braucht die Gelegenheit, sich etwas anzueignen (zu eigen machen, verinnerlichen), etwas zu (re)produzieren und somit letztlich zu gestalten (kreativ sein). Das gilt für einen geistigen Arbeiter ebenso wie für einen Handwerker.

 

Meine neueste Idee ist übrigens ein Kinderwagen mit zwei Bildschirmen: einen für das Kind, einen für den Schiebenden. Damit sich niemand mehr beim Spazierengehen langweilen muss.


15. Februar 2014